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Horst Tietz



                   Tietz and Huckel 1949                    Horst Tietz, Professor of mathematics, was born in Hamburg, Germany in 1921. He began his studies in 1939 in chemistry. Due to his 'nonarian decendance' he was soon excluded yet continued to attend courses anyway. He was brought to a camp with his parents where only he himself survived. He continued his studies in 1945, obtained his doctorate in 1950 at Marburg. He was an assistant to Huckel during 1948-1951, at left a picture of Huckel and Tietz in 1949.



Interview with Professor Horst Tietz


Hannover, November 16, 1998, 17:30


Dr. Anders: Herr Professor Tietz - ich darf Ihnen gleich eingangs danken, daß Sie sich zur Verfügung gestellt haben. Sie sind emeritierter Professor der Mathematik der Universität Hannover, Autor zahlreicher Bücher (1-6) und von ca 50 Fachartikeln. Wie Sie schon am Telefon sagten, und wie es auch in der Hückel Autobiographie nachzulesen ist (13;p.146), waren Sie Hückels erster Assistent in Marburg und der einzige, der namentlich Eingang in seine Autobiographie fand.

Prof. Tietz: Ja. Damit man in die Stimmung kommt, nehme ich hier die Rede her, die ich an seinem Sarg am 22. Februar 1980 gehalten habe. Ich lese Ihnen das einfach mal vor:

Lieber väterlicher Freund, du hast deinen langen Weg durch Freud und Leid beendet, was Dir an Leid zugemessen war, ...

{Prof. Tietz verliest seinen Nachruf auf Hückel} (Anh. A1 und Ref. (7))

Das sind meine Worte, die ich damals, im Februar 1980, gehalten habe. Mein anderer Artikel Einige persönliche Worte zu Erich Hückel ist etwas länger. Was Sie über seine Vorlesungen wissen wollten, das habe ich hier genau formuliert:

Hückel investierte viel Arbeitskraft in seine Vorlesungen. Faszinierend waren sie nicht. In seiner Nervosität versprach und verrechnete er sich oft, trotzdem waren sie beliebt. Die Schwierigkeiten, die der Professor hatte, machten uns Studenten die eigenen Schwierigkeiten erträglich. Damals war das menschliche Engagement eines Dozenten noch ein tragfähiges Medium im Lehr- und Lernprozeß, bevor durch das Geschrei nach Didaktik der eiserne Vorhang herunterfiel. Hückels Rechenfehler wurden durch Erfindung des "Hückeloperators" weitgehend kompensiert: man ändere das jeweilige Ergebnis nach Bedarf um das Vorzeichen, den Faktor 2 oder den reziproken Wert. Seine Versprecher waren vielleicht nicht immer unbeabsichtigt ... (Anhang A2 und Ref. (8)).

Naja, das ist das, was ich über seine Vorlesung sage, und das ist nicht nur meine Meinung. Ich treffe mich gelegentlich noch mit alten Komilitonen, einmal im Jahr. Es existieren noch einige und sie sind alle derselben Meinung.

Huckel at the board 1950

Erich Hückel während einer Vorlesung um 1950.


A: Eine Frage, die ich in diesem Zusammenhang gerne stelle: Warum hat er selbst nie die Hückeltheorie weiter betrieben?

T: Genau das war jetzt bei seiner Hundert-Jahr-Feier in Marburg (17b) immer wieder das Thema. Es wurde einfach gesagt, daß er aus seinen Depressionen nicht rauskam. Er hat zwar immer mal was Kleineres gemacht, aber das war ihm zu anstrengend. Außerdem merkte er ja, daß seine Ergebnisse fortgesetzt worden sind, besonders in Amerika, und das holte er nicht wieder auf.

A: Frankreich war ja auch sehr, sehr stark in der Hückeltheorie. Dort kamen viele Bücher heraus - -

T: Aber erst nach dem Krieg. Während die Amerikaner sich offenbar schon kurz nach Erscheinen seines Artikels sofort drauf gestürzt haben. Er fand hier ja auch keinerlei Anerkennung. Die Chemiker haben ihn ja bei uns vollkommen ignoriert, das wurde auf dieser Hundert-Jahr-Feier gesagt (17b). Daß zum Beispiel der berühmte Organiker Meerwein , den wir in Marburg hatten (19) und der nur ein paar hundert Meter von ihm entfernt saß, daß der überhaupt nicht Notiz genommen hätte von Hückel, der ihm die Theorie für seine Probleme hätte liefern können.

A: Ja, in England wurde er ja sehr bekämpft, zusammen mit seinem Bruder Walter.

T: Bekämpft?

A: Ja, der englische Organiker R. Robinson, der bekämpfte ihn sehr. Dazu gibt es entsprechende interessante Literaturstellen (18a-c).

T: Also Meerwein hat ihn ignoriert, würde ich sagen. Meerwein war ein, ich weiß nicht, ob sie persönlich ein Bild von ihm haben, ein Asthenikertyp, ein hagerer, geistiger Kraftmensch, ein geistiger Kraftprotz, körperlich weniger. Und der hatte natürlich gar kein Verständnis für eine solche leidende, immer leidend aussehende Figur, wie Hückel es war. Er hat ja auch furchtbar viel durchgemacht. Das steht ja auch in meinem Artikel. Hier zitiere ich, er hat selber mal mit 50 Jahren schon seinen eigenen Nachruf formuliert. Sein eigener Nekrolog, der schließt mit den Worten:

Seine milde Herzensgüte wechselt mit aufbrausendem Zorn. Sein sarkastischer Humor sowie sein sanfter Jammerton werden allen, die ihn kannten, unvergeßlich bleiben. (Anhang A3).

Am Abend dieser Hundert-Jahr-Feier traf man sich dann in Marburg in der Sonne. Das ist ein Weinlokal am Marktplatz, ein altes Akademikerlokal. Und da habe ich mir erlaubt, noch einmal zu extemporieren und wesentliche Auszüge aus dieser Ansprache zu bringen, weil alles, was gesagt wurde, vorher zwar gut gemeint war, aber irgendwie kein Bild von Hückel gab. Es wurde doch sehr gut aufgenommen. Und da sprach mich auch Hoffmann (20) an und meinte doch, viele seien der Meinung gewesen, daß der Pauling-Nobelpreis (21) eigentlich Hückel gebührt hätte.

A: Für die anfangs mehrverwendete Methode, letztendlich. Pauling war ja wohl ein großer Show-man, aber damals führte die Hückelmethode erst mal weiter. Sie wurde später aufgenommen und selbstredend modifiziert. In Paris, da gab es die Pullmans, Alberte und Bernard, die zusammen 850 Veröffentlichungen hatten: die fingen nach dem Krieg ganz massiv mit den Anwendungen der Hückeltheorie in der Organischen Chemie an. Von daher mag es verständlich sein, daß es noch heute, also Ende der 90er Jahre, in Frankreich Lehrbücher gibt, die aus Gründen der Didaktik eine ausgedehnte Darstellung der Hückelmethode bringen (22), da ist die Methode von Hückel heute noch die Einführungsmethode für organische Chemiker. Schön gemachte Bücher. Und das finde ich sehr interessant, es zeigt eindringlich die tiefe Wirkung der Hückelschen Methode.

T: In Deutschland, in Braunschweig war ein Herr Quinkert, der sehr viel auf der Hückelmethode gearbeitet und weitergearbeitet hat (28). Und hier in Hannover hatten wir jedenfalls einen Kollegen, der sich immer darauf berief, daß er Hückelexperte sei (29). Das war Herr Bölsing. Sie werden ihn nicht kennen.

A: Sie haben also mit Hückel von Anfang an in Marburg zusammengearbeitet?

T: Es war so. 1947 brauchte man noch Attestate in den Vorlesungen und zu den Übungen. Ich stand auch dort in der Schlange, und Hückel guckte in sein Notizbuch und sagte: "Herr Tietz, Sie haben zu wenig Aufgaben abgegeben, ich kann Ihnen das Attestat nicht geben, aber ich biete Ihnen meine Hilfsassistentenstelle an." Ich bin ihm, er schreibt das auch in seinem Buch, dadurch aufgefallen, daß ich in den Vorlesungen, an geeigneter Stelle natürlich, dazwischengefragt habe (13; p.146).

Und als ich dann kurz danach mein Staatsexamen machte, in reiner und angewandter Mathematik natürlich als Hauptfach, hatte ich dir Physikprüfung bei ihm. Das war übrigens das Entzückende, daß er es bei der Klausur, die ich bei ihm schreiben mußte und die unter Aufsicht stattfinden mußte (er konnte ja nicht vier Stunden dabeisitzen), so gemacht hat daß er mich in seinem Dienstzimmer eingeschloß. Hat mir aber zum Trost eine Chesterfield - vor der Währungsreform (23) - auf mein Prüfungsblatt gelegt. Das war schon was besonderes damals. Es war ein ganz rührendes Verhältnis.

Ja, und dann wurde ich Hilfsassistent bei ihm, nach dieser Endsitzung. Der erste, den er hatte, er hatte keine eigenen Stellen sonst. Er war kein Institutschef, er war ja nur Extraordinarius im Physikalischen Institut, nicht wahr, und hatte deswegen kein eigenes Personal. Sein Chef war Wilhelm Walcher, der lebt noch, er ist heute {1998, I.'s n.} bald 90. Das war ein Mann, der sehr organisieren konnte, flott und temperamentvoll, und der alle Tricks raushatte, wie man Behörden auf's Kreuz legen konnte. Der kam einmal aus Wiesbaden (30) zurück, wo er "betteln" gewesen war, und sagte: "So, Herr Hückel, ich habe für Sie eine Hilfsassistentenstelle mitgebracht."

Und die hatte Papa Hückel nun. Und wurde nun angefeindet, weil er einen Mathematiker und nicht einen Physiker draufsetzte. Er sagte: "Physik kann ich alleine, ich brauche jemanden, der mir bei der Mathematik hilft." Ja, und so kam die Zusammenarbeit zustande, drei Jahre lang, das war sehr schön. Von mir ist eine Veröffentlichung damals entstanden Die klassische Mechanik als Tranformationstheorie, in der Zeitschrift für Naturforschung (12).

Und dann habe ich im von Flügge herausgegebenen Handbuch der Physik - Flügge war Untermieter bei Hückels - habe ich den Geometrie-Artikel geschrieben (24). Und bei den Physiko-Chemikern in Marburg - ich war mit sehr vielen befreundet - fristete ich, wie die so sagten, ein dürftiges Fußnotendasein. Mir wurde oft gedankt für meine mathematische Hilfe bei ihren Arbeiten, das stand dann unten. Und schließlich gab es einen Saufabend im Institut für Physikalische Chemie, da sagte mir einer lallend: "Man muß eben nicht nur Eier legen, man muß auch gackern." Und das habe ich mir zu Herzen genommen und kurz danach meine ersten drei Arbeiten in Druck gegeben, da kam ich zum Gackern (25).

Übrigens, Sie werden mich nun überhaupt nicht mehr ernst nehmen, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich mit Chemie angefangen hatte. Das hatte Gründe aus dem Dritten Reich. Ich war bei Kriegsbeginn im Reichsarbeitsdienst und es gab den Erlaß, daß Abiturienten, die Chemie oder Medizin studieren wollten, zum Studium beurlaubt werden konnten. Und da ich für Medizin nicht die geringste Lust hatte - das war mir zu unappetitlich, noch unappetitlicher als die Chemie - habe ich Chemie gewählt, und es war eine Katastrophe!

Also, ich habe dann erstmal in Hamburg angefangen und naja, dann kamen die Kriegsereignisse, die politischen Ereignisse dazwischen. Nach dem Kriege habe ich in Marburg weiterzumachen versucht. Und dann passierte mir, daß ich im Praktikum den Bunsenbrenner am Wasserhahn angeschlossen hatte, und das war für mich das Signal, jetzt ist Schluß mit der Quälerei. Ich behaupte, das kann jedem passieren, unterm Abzug war abwechselnd Gas - Wasser - Gas - Wasser, die Hähne unterschieden sich nur durch die Anzahl der Flügel, die die Schrauben hatten. Ich weiß heute noch nicht, welcher welcher war: die einen hatten zwei, die anderen vier Flügel? Das war dann meine Abschiedsvorstellung in der Chemie, aber ich habe mir viele Freunde seitdem bewahrt aus dem chemischen Bereich. Zum Beispiel den Physiko-Chemiker Rolf Haase, der ein Lehrbuch der Thermodynamik der irreversiblen Prozesse geschrieben hat, sein Hauptwerk. Wir sind gegenseitig Patenonkel unserer Töchter.

A: Später wurde auch versucht, die Hückeltheorie mit der Graphentheorie zusammenzubringen. Hatten Sie damals oder später davon gehört?

T: Ich hab das Schlagwort gehört, aber wer und wie und was - ich versteh auch nichts davon, muß ich Ihnen ehrlich sagen. Hückel hat auch nie versucht, mich hineinzuziehen. Wie schon gesagt, er hatte um die Zeit gar nicht mehr auf diesem Gebiet gearbeitet. Er hatte soviel mit den Vorlesungen zu tun, er hungerte und hatte immer Angst, er würde verhungern und Lebensangst war enorm bei ihm.

A: Was mir in Hückels Autobiographie auch auffiel: war es nicht so, daß Zsigmondy, sein Schwiegervater, der ja Nobelpreisträger war, nicht unausgesprochen die Bedingung einfügte, daß Hückel Professor werden mußte (15;p.154)? Er hat ja zweimal habilitiert.

T: Ja, Moment, dazu muß man folgendes sagen. Es ist ja eine Schikane gewesen: Er war in Zürich Dozent und kam dann nach Stuttgart, und die verlangten von ihm eine neue, nicht nur eine Umhabilitation, wie es üblich wäre, sondern eine volle neue Habilitation. Und aus diesem Grunde haben die Stuttgarter ja später ihm als erste den Ehrendoktor gegeben, als so eine Art Wiedergutmachung. Nein, also davon ist mir nichts bekannt, ich weiß auch nicht, ob er in seiner Autobiographie darüber was schreibt.

Sein eigener Vater, der Armand Hückel, war ja auch Professor, Mediziner meines Wissens, aber Privatgelehrter. Und seine Berliner Habilitation wurde, glaube ich, in Göttingen nicht anerkannt. Aber er war ein hochkultivierter und geistiger Mensch, der auch seine drei Söhne, sehr anregte. Darüber schreibt Papa Hückel ja selber in seiner Autobiographie, da brauche ich nichts hinzuzudichten (13). Ich könnte mir nicht vorstellen, daß der alte Hückel, der Armand Hückel, nicht selber genug Push gegeben hätte, um aus Erich was zu machen. Also, ich kann mir diese Idee, daß Zsigmondy das gewollt hat, nicht ganz klarmachen. Ich weiß auch - er ist ja an seine Frau, an die Annemarie, Mama, wie sie bei uns immer nur heißt, - gekommen durch seinen Freund Schumm, der war auch Chemiker war, der hatte eine Fabrik nachher. Und der musizierte mit der Annemarie Zsigmondy. Sie geigte und Schumm spielte Klavier. Und da hat Hückel sich wohl in diese Geigerin verliebt. Und um selber die Chance zu haben, sie auch zu begleiten, nahm er noch Klavierunterricht. Wenn auch, wie er nachher selber sagte, ohne wesentlichen Erfolg, aber gekriegt hat er sie doch. Aber was der alte Zsigmondy dabei für eine fördernde oder bremsende Rolle gehabt haben soll, das ist mir nicht bekannt. Obgleich ich sagen möchte, daß in der damaligen Zeit alles möglich war. Die gesellschaftlichen Ansprüche, die gestellt wurden, waren ja ebenso rätselhaft wie enorm.

A: Hückel ging ja dann nach England und arbeitete dort an Kapillarproblemen, erfolglos, wie er selbst sagt (13). Als Hückel dann die Idee mit der quantenmechanischen Behandlung des Benzols hatte, schien es, als wenn er darüber sehr froh war.

Ich bin kein Quantenmechaniker von Haus aus, aber ich habe in Hückels Originalarbeiten Hintergedanken gegen diese Vereinfachungen, die er machte. Wo er den Hückeloperator, den wir heute Hückeloperator nennen, immer mehr abgespeckt hatte. Ich meine, die sonst komplizierten Integrale hätte er damals nicht lösen können. Hat er also den Operator abgespeckt, um die Sache zu vereinfachen oder um die Integrale zu umgehen?

T: Also das tut man doch - ich weiß jetzt nicht genau, was Sie konkret meinen, aber daß man Integrale, die man nicht exakt lösen kann, annähert durch erste Näherungen, ist ja an sich nicht so ungewöhnlich - - Tut mir leid, bin ich vollkommen überfragt. Habe ich keinerlei Kenntnisse. Und, wie gesagt, über diese Dinge hat er mit mir auch nicht mehr gesprochen. Sie müssen denken, das war 10 Jahre nach seiner, ja, ich würde schon sagen, seinem Genieblitz, den er da gehabt hat. Das weiß ich nicht.

A: Mich hat immer die menschliche Komponente in Hückels Autobiographie irgendwie berührt. Aber wenn ich so rumhorche unter den Quantenchemikern, dann sehe ich, daß die überhaupt nicht diskutiert und/oder verstanden wird.

T: Nein, weil sie nicht erkannt worden ist. Alle Leute sahen in ihm von außen nur diesen, wir würden heute sagen, diesen quengeligen, jammernden Menschen, nicht wahr. Aber es war eine unglaubliche Wärme und Tiefe in ihm, wenn sie auch verschüttet war. Das kommt auch in dieser Rede, die ich da gehalten habe, hervor. Ich habe auch sehr viel Resonanz darüber gehabt, damals. Herr Dimroth hatte mich damals eingeladen, diesen Vortrag zu halten.

A: Gibt es eigentlich einen Sammelband dieser Vorträge zur Hückel Gedenkfeier?

T: Der ist niemals gedruckt worden.

A: Welches Institut hatte diese Feier organisiert?

T: Die Gesellschaft Deutscher Chemiker zusammen mit der Physikalischen Gesellschaft haben dieses Festkolloquium organisiert.

A: Sind da die Vorträge nicht eingereicht worden und hat die Gesellschaft Deutscher Chemiker nichts gemacht?, Das ist bedauerlich.

T: Wie hieß doch dieser Schweizer Kollege, der über die Hückel-Theorie gesprochen hat?

A: Heilbronner?

T: Heilbronner, ja, der hatte nach mir dort geredet. Also, der hat damals sogar gesagt, es gäbe bei den Chemiker das Verbum "hückeln", wenn man irgendetwas durch die Rechenmaschine dreht mit dem Hückelprogramm, dann hückelt man. Während bei uns in der Familie, in der Hückelfamilie, hückeln mehr das Abziehen von speziellen Witzen bedeutet, also Wortspiele und so etwas.

A: War Hückel so humorvoll?

T: Zauberhaft, wenn er in guter Stimmung war, ich sagte ja, wenn er sich menschlich geborgen fühlte, ein Gläschen Wein dabei war - dann kam er aus sich heraus, dann kamen die dollsten Witze und Wortspiele raus, das war zauberhaft. Und wir beide ergänzten uns dabei immer sehr schön.

A: Hückel hatte ja schwere Migränen. Ist Ihnen das schon bekannt gewesen, als Sie als Assistent anfingen? Was haben Sie davon mitbekommen in Ihrer Assistentenzeit?

T: Seine Schlafstörungen, die Angst vor hellem Licht, seine Depressionen gingen oft in Migräne über. Die Depressionen waren ja nicht unbegründet, war doch sein jüngerer Bruder Rudi in Berlin verhungert.

A: War er dann immer krank, wenn er seine Depressionen hatte?

T: Kränklich, kränklich.

A: Also, nicht so richtig krank?

T: Ich weiß es nicht, was es war. Wissen Sie, es ist vielleicht so zu beschreiben: Typisch für ihn und ständig war es, daß er nachts nicht schlafen konnte, wenn auch nur der winzigste Lichtstrahl ins Zimmer drang. Es mußten auch sonst schwarze, dicke schwarze Vorhänge vor die Fenster genagelt werden, damit an den Seiten nichts hereinkam. Nicht wahr, das ist so diese, ich würde sagen, doch hypochondrische Art, die in ihm drinsteckte. Er mußte, wie in einem - ich sagte immer, "Mensch, Sie sitzen ja hier wie in einem Sarg, was soll denn das?" Und er sagte dann, ja, das Licht mache ihn krank. Also, er war bestimmt ein Neurotiker. Aber er hatte auch viel durchgemacht. Er hatte in jüngeren Jahren, das steht wohl auch in dem Buch, diese viel zu spät erkannte Blinddarmentzündung mit dem durchbrochenem Blinddarm und die wahnsinnige Todesangst, die muß ihm doch sehr zu schaffen gemacht haben. Ganz abgesehen davon, daß es ihm schwerfiel, wieder zu Kräften zu kommen. Aber vom Typ her war er ein schwächlicher Mensch und deswegen sehr anfällig. Ja, ich habe wohl mal eine Krankheit von ihm erlebt, aber auch nervlich bedingt, wahrscheinlich. Ich nehme an, daß er da ein abstruses Schlafmittel genommen hat, was ihm nicht bekommen ist. Er war auch in der Klinik in Marburg, ich glaube, in der Inneren, ich weiß nicht, was das war. Und weil er es einfach nicht ertragen konnte, daß man ihn morgens um 5 oder 6 Uhr weckte - was ja in Kliniken so üblich ist - hatte er ein Schild außen an die Tür gemacht "Vorsicht Atombombe" (es war kurz nach dem Kriege), und da ist keiner mehr reingekommen. Mal nur als weiteres Beispiel für seinen Humor, nicht wahr.

A: Hückel verbrachte seine letzten Jahre in einer Nervenanstalt. Sie kannten ja Hückel, wie Sie vorher sagten, auch privat. Wie viele Jahre war Hückel dort? Wie sehen Sie seine Krankheit heute? War die Krankheit eine Spätfolge seiner früheren Migränen und Nervenprobleme? Oder war es eine eigene, neue Krankheit, unter der er in seinen letzten Tagen litt?

T: Kurz nach seinem 80. Geburtstag {Herbst 1976 - Febr. 1980, I's. n.} muß er nach Cappel, in das Landeskrankenhaus bei Marburg, gekommen sein. Meine Frau und ich haben ihn dort mehrmals besucht. Es war erschütternd zu erleben, wie dieser große Geist unaufhörlich die Zipfel seiner Taschentücher zählte. Zu seiner Krankheit wage ich nichts zu sagen. Ich vermute, daß es Alzheimer gewesen ist.

A: Ja, war er ein Kopfmensch oder nicht? War er intellektualisiert über seine Migräne oder -

T: Ich möchte das nicht so analysieren, ich möchte es als Ganzes sehen. Und das paßt irgendwie in das Bild hinein. Was für eine Art Humor er entwickeln konnte, ich beschreibe es auch in meinem Vortrag (Anhang A2), daß er einmal - wir hatten doch damals dieses Berlin-Opfer, 2-Pfennig-Briefmarken - einen ganzen Brief nur mit Berlinmarken frankiert hat. Er war nachher stolz drauf, daß dieser Brief sogar angekommen war. Und dann hat er es sogar mal ganz verrückt gemacht, er hat mal einen Brief mit Rabattmarken beklebt, auch der ist angekommen. Aber die schönste Geschichte ist eigentlich die folgende, die versehentlich passiert ist, aber sie paßt auf ihn. Er war, glaube ich, im Schwarzwald, vielleicht war er bei Walter zu Besuch, jedenfalls auf dem Dorf. Das dortige dörfliche Postamt ließ ihm mitteilen, es wäre ein Einschreibbrief auf der Poststelle, er möchte ihn abholen. Na, er ging hin, ja, er sollte sich ausweisen. In seiner Nervosität grabbelte er in seiner Brieftasche rum, fand er natürlich keinen Ausweis und da fiel ein Paßfoto raus. Gerade als er es wieder einstecken wollte, sagte der Mann am Postschalter: "Ja, zeigen Sie mal her." Dann sah er sich das an und sagte: "Ja, das sind Sie! Bitte, hier ist der Brief!"

A: Und das hat er dann gerne erzählt.

Huckel walk in the woods T: Jaa, das sind so Töne, die in sein Weltbild hineinpassen. Die Absurdität des Bürokratischen. Auch folgendes: im Marburger Physikalischen Institut war der Fahrstuhl sehr ausgeleiert, repariert werden konnte nichts in der damaligen Zeit. Deswegen kam aus Kassel eine Inspektion und nahm jedem Angehörigen des Physikalischen Instituts eine Fahrstuhlführerprüfung ab. Der einzige, der durchfiel, war Professor Hückel!

A: Die Geschichte mit der französischen Besucherin in seinem Haus, die dann, wegen der abgeschlossenen Tür, aus dem Fenster sprang, könne Sie die bitte noch einmal kurz erzählen?

T: Das war noch in Stuttgart passiert. Hückel bekam von der Rockefeller-Stiftung ein Stipendium an die Sorbonne und wollte sein Französich auffrischen. Auf sein Inserat meldete sich eine junge Französin. Bei ihrem ersten Besuch schloß Hückel, was er gewohnheitsmäßig als Schutz gegen die lebhaften Söhne immer tat, die Tür seines Arbeitszimmers ab. Die junge Dame ließ daraufhin erst von ihrer Absicht, aus dem (ebenerdigen) Fenster zu springen, ab als sie am Fenster des Nebenzimmers das lachende Gesicht von Frau Hückel sah.

A: Wie nahmen die Studenten all diese Hückelschen Eigenheiten? Verstanden die das irgendwo?

T: Ach, er wurde geradezu geliebt! Na gewiß, wenn man ihn vergleicht mit Flügge z. B., der zur selben Zeit da war: Flügge war der strahlende, didaktisch faszinierend redende Mensch, aber es war menschlich fremd, was er machte. Hückel strahlte in seiner Ungeschicklichkeit eine große Wärme aus, und rückblickend muß ich sagen, waren seine Vorlesungen vom Inhalt her hervorragend, nur er konnte es nicht so darbringen, daß man das gleich merkte.

A: Hatten seine Kinder da Niederschriften dieser Vorlesungen?

T: Könnte sein, weiß ich nicht. Es ist ja das Malheur gewesen: die Physik hat ja auch noch der älteste Sohn Richard angefangen aber bald abgebrochen. Nach dem Abbruch emigrierte er prompt am nächsten Tag nach Amerika zu seinem Patenonkel Onsager. Ich könnte mir nicht denken, daß bei Richard noch was zu holen ist. Bernhard, der dann als Geophysiker hier in Hannover an der Bundesanstalt für Bodenforschung war, der lebt nicht mehr (26). Vielleicht hat dessen Frau Heide noch irgendwelche Restbestände. Aber die andern beiden - , Manfred, der Geiger, ist in Monte Carlo am Orchester, der wird nichts haben und Irene auch nicht (27). Ich wüßte nicht, wo sie {die Niederschriften, I.'s n.} geblieben sein könnten. Ich selber habe nichts, das hätte ja nahe gelegen.

Herrlich waren ja die Möbel bei Hückel. In seinem Arbeitszimmer stand ein Schreibtisch, der kongruent war zu dem Schreibtisch Napoleons, der auch von demselben Tischler stammte. Den muß ein Vorfahre von Hückel, der glaube ich, Haus- und Hoflehrer bei dem Napoleonischen Sohn gewesen ist, als Dank von der Familie mal geschenkt bekam. Und der war bei Hückel! Er war unglaublich, dieser Schreibtisch, an dem wir herrlich gearbeitet haben.

A: Herr Professor Tietz ich darf mich für das Gespräch über die menschliche Seite von Hückel nochmals ganz herzlich bedanken.

 

 

References and Notes


(1) H. Tietz, Laurent-Trennung und zweifach unendliche Faber-Systeme.

Brühlsche Universitätsdruckerei, Gießen, 1955.

(2) H. Tietz, Vorlesung über Analytische Geometrie. Aschendorff, Münster, 1960.

(3) H. Tietz, Lineare Geometrie. Aschendorff, Münster, 1967.

(4) H. Tietz, Lineare Geometrie. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1973.

(5) H. Behnke, H. Tietz, Mathematik, 2 Bde. Fischer Verlag, 1973-.

(6) H. Tietz, Einführung in die Mathematik für Ingenieure.

Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1979-.

(7) H. Tietz, Am Sarge Erich Hückels. Grabrede, Marburg 1980.

Unveröffentlicht, Priv. Archiv H. Tietz Hannover-Garbsen.

(8) H. Tietz, Einige persönliche Worte zu Erich Hückel.

Festkolloqium, Nov. 1980, zum Gedenken an Prof. Dr.Phil. Erich Hückel. Unveröffentlicht, Priv. Archiv H. Tietz Hannover-Garbsen...

(9) H. Tietz, Mathematik und Sprache oder der Wert von Zweideutigkeiten.

Universität Hannover, Institut für Mathematik, Hannover, 1989.

(10) H. Tietz, Begegnung mit Hamburger Mathematikern.

Vortrag auf der Sitzung der Mathematischen Gesellschaft Hamburg, in: Mitteilungen der Mathem. Gesellschaft Hamburg, Hamburg, 1997.

(11) H. Tietz, Erlebte Geschichte. Mein Studium - meine Lehrer.

Vortrag im Mathematischen Kolloqium der Universität Stuttgart, Oktober 1998.

(12) H. Tietz, Die klassische Mechanik als Transformationstheorie. Zeitschr. Naturforschg. 6a, 417 (1951).

(13) E. Hückel, Ein Gelehrtenleben. Ernst und Satire. Verlag Chemie, Weinheim, 1975.

(14) J.A. Berson, Erich Hückel - Pionier der Organischen Quantenchemie:

Leben, Wirken und späte Anerkennung. Angew. Chem. 108, 2922-2937 (1996).

(15) H. Hartmann, H.C. Longuet-Higgins, Erich Hückel - 9. August 1896 - 16. Februar 1980.

Biographical Memoirs. ???(1980???).

(16) G. Frenking. 100. Geburtstag von Erich Hückel. Chemie in unserer Zeit, 31, 27-31 (1997).

(17a) Festkolloqium, Marbug, November 1980.

(17b) Festkolloqium, Marbug, Oktober 1996.

(18a) A. Lapworth, R. Robinson, Distribution of electrons in the aromatic nucleus and the early stages

of aromatic substitutions.Nature 129, 278 (1932).

(18b) E. Hückel, W. Hückel, Theory of induced polarities in benzene. Nature 129, 937 (1932).

(18c) A. Lapworth, R. Robinson, Theory of induced polarities in benzene Nature 130, 273 (1932).

(19) Meerwein, Hans Lebrecht, 1879-1965.

Prof. of Chemistry at Bonn, Königsberg, Marburg (Germany). Worked on the reduction of aldehydes and ketones, methylation with diazimethane, polymerization of tetra- hydrofuranes. Remembered is the Meerwein-Ponndorf reaction.

(20) Roald Hoffman, geb. 1937. Nobelpreis Chemie 1981.

(21) Linus Pauling, 1901-1994. Nobelpreis Chemie 1954, Friedensnobelpreis 1963.

(22a) J.-L. Rivail, Éléments de Chimie quantique. InterÉditions/CNRS èditions, Paris, 1994.

(22b) B. Vidal, Chimie quantique. Masson, Paris, 1993.

(22c) B. Vidal, Quantique moléculaire. Technique et Documentation, Paris, 1997.

(23) Währungsreform 1948.

Darunter versteht man die Umstellung von Reichsmark auf Deutsche Mark in Westdeutschland 1948. Sie erfolgte auf Anordnung der westlichen Besatzungsmächte USA, Großbrittanien und Frankreich über die neugegründete Bank Deutscher Länder (ab 1957: Deutsche Bundesbank) und war angeblich benötigt gegen eine 'kriegsbedingt zurückgestaute Inflation'. Der Hauptgrund hier war wohl eher eine gewollte Überhöhung der Währungen der Siegermächte, besonders der USA, die dadurch u.a. gewaltige Teile deutscher Industrie billig kaufen konnten.

Der deutsche Umsetzungsschlüssel von Reichsmark nach Deutscher Mark war kompliziert, löste aber die bis dahin betriebene Warenhortung der Luxus- und Konsumgüter auf. Amerikanische Zigaretten, wie die hier angesprochene 'Chesterfield', waren ein beliebter Hortungs- und Schwarzmarktartikel vor der Währungsreform.

(24) Flügge Handbuch der Physik.

(25a) H. Tietz, Beweis der Konvergenz eines Verfahrens von W. Bartky zur

Berechnung von bestimmten Integralen. J. Reine Angew. Math. 189, xxx-xxx (1952).

(25b) H. Tietz, Fabersche Entwicklung auf geschlossenen Riemannschen

Flächen. J. Reine Angew. Math. 190, xxx-xxx (1952).

(25c) H. Tietz, Partialbruchzerlegung und Produktdarstellung von Funktionen auf

geschlossenen Riemannschen Flächen. Archiv Math. 4, xxx-xxx (1952).

(26) gest. ca 1976.

(27) Irene Liessem, geb. Hückel, jüngste Tochter Hückels.

(28) Quinkert

(29) Bölsing

(30) Wiesbaden, nahe Frankfurt/Main, war und ist der Sitz der Hessischen Landesregierung zu deren

Kultusministeriums-Bereich auch die Universität Marburg zählt.







Anhang A1. {Alle Hervorhebungen sind die des Autors. I's.n}

 

 

Horst Tietz Marburg, den 22. Februar 1980

Am Sarge Erich H ü c k e l s -

Lieber väterlicher Freund !

Du hast Deinen langen Weg durch Freud und Leid beendet. Was Dir an Leid zugemessen war, traf Dich doppelt schwer: denn Du warst nicht zum Tragen geschaffen, den Widrigkeiten des Lebens warst Du schutzlos ausgesetzt: Dir war kein innerer Panzer gewachsen, und zur Anpassung an die Umwelt warst Du ganz unbegabt; der Härte konntest Du keine Härte entgegensetzen. Angst vor Depressionen, Krankheit und Schicksalsschlägen ließ Dich wohl nie die schöne Illusion von der Sicherheit Deines Glückes genießen.

So bist Du Deinen Schülern meist bedrückt und ängstlich erschienen. Aber seltsam: Obgleich Dich stabilere Kollegen überstrahlten, wurdest Du von den Studenten hoch geachtet - der scheue Professor war uns menschlich näher. Und es war für uns eine überraschende Genugtuung, als nach dem Kriege ein amerikanischer Physiker das Institut besuchte und sich die hiesigen Physiker nennen ließ; nur einer war ihm bekannt: "Ah! The famous Hückel!" Da ahnten wir die Größe Deiner Forschung, die Du Deiner labilen Konstitution, Deinen Selbstzweifeln und dem Ausbleiben der Anerkennung in Deutschland abgerungen hattest!

Woher hattest Du die Kraft hierfür genommen? Für Dich galt das Prinzip von Vischers Auch Einer: "Das Moralische versteht sich immer von selbst!" Dies, und nicht die so augenfällige Depressivität, war Dein eigentliches Wesen!

Und wer Dir näher sein durfte, erlebte den ganzen Reichtum, der aus dieser Deiner Grundhaltung erwuchs: Deiner unbedingten Wahrheitsliebe brachtest Du jedes Opfer und aus Deiner Arglosigkeit heraus warst Du nicht nur unfähig zu intrigieren, Du weigertest Dich sogar, gegen Dich gerichete Intrigen zur Kenntnis zu nehmen. Doch wo Du Dich mit Deinem Vertrauen geborgen wußtest, entfaltetest Du Deinen beglückenden Humor und Deine - in der Fähigkeit zum Mitleiden wurzelnde - gütige, helfende, liebevolle Menschlichkeit. In diesem Sinne warst Du tief religiös, auch wenn Du den offiziellen Wunderglauben nicht mitmachen konntest. Deine "wahre, ganze Liebe", die Dir das geliebte Elternhaus gegeben hatte, schenktest Du aber Deiner Familie - und empfingst sie aus ihr zurück.

Möge das, was Du uns gelehrt hast, Früchte tragen: die Welt braucht keine Helden sondern Menschen, die im Leid die Kraft zur Güte bewahren.

Hab Dank !

 

 

 




 

 

Anhang A2 {Alle Hervorhebungen sind die des Autors. I's.n}

 

 

FESTKOLLOQUIUM zum Gedenken an PROF.DR.PHIL. ERICH H Ü C K E L

Marburg, den l4. November 1980

"Einige persönliche Worte zu Erich Hückel"

von Horst Tietz

Zunächst habe ich Ihnen von Frau Hückel herzliche Grüsse auszurichten; sie ist gerade jetzt auf dem Rückflug von den USA - ein Mißverständnis hat bewirkt, dass sie ihre Reise an diesem Gedächtniskolloquium irreversibel vorbeigeplant hatte.

Frau Hückel hat trotz ihres Alters, trotz schwerster eigener Erkrankungen, trotz ihrer Aufopferung während des jahrelangen unbeschreiblich schweren Siechtums ihres. Mannes ihre lebensvolle Kraft behalten. - Als meine Frau und ich vor etwa zwei Jahren einmal spät abends in der Wilhelm-Roser-Strasse ankamen, schien zunächst das Hückelsche Haus leer zu sein; schliesslich führte uns leise Musik an ein Flurfenster, wo wir eine ergreifende Szene erlebten: aus ihrem Tonbandgerät erklang ein Brahms-Trio, und Frau Hückel saß vor ihrer zum Notenständer entfremdeten Nähmaschine und spielte auf ihrer schönen Geige den Violinpart, ganz in sich und in die Musik versunken.

Diese Stabilität seiner Frau war auch für Erich Hückel die tragende Basis. Aber auf Musik war er eifersüchtig! Er hatte zwar durch sie seine Frau kennengelernt, die mit seinem klavierspielenden Studienfreund Pau1 Schumm musizierte. Es war wohl der Wunsch, seine Als Violinpartnerin immer begehrtere Annemarie selbst begleiten zu können, der ihn in Zürich veranlaßte, wieder Klavierunterricht zu nehmen: ohne Erfolg.

So blieb er beim Musizieren passiv; und die Musik blieb ihm fremd; in der seine Anne zuhause war. Mehr noch! An der Musik trat der Wesensunterschied der Eheleute zutage: die so vielseitig begabte Frau Hückel geht in ihrer jeweiligen Tätigkeit ganz unkompliziert auf; für Erich Hückel war die Konzentration das grosse Problem. Wenn ihn seine Arbeit gepackt hatte, versank er mit seinem ganzen Ich darin: ohne Rücksicht auf seine Gesundheit fand er tagelang keinen Schlaf und hielt sich mit Strömen von Kaffee wach; aber einerseits konnte er diese produktiven Phasen nicht zwingen, sie kamen wie Naturgewalten über ihn, andererseits endete solche gewaltsame Produktivität fast stets in depressiver Erschöpfung. Ich glaube, dass ihm die Harmonie seiner Frau seine eigene Disharmonie schmerzhaft deutlich machte, die ihn vielleicht nur einen kleinen Teil von dem schaffen liess, wozu er begabt war. -

Hückel litt sehr an seiner Labilität. Depressionen waren die Folge; und die Angst vor diesen Depressionen, vor seinen schweren Migräneanfällen, überhaupt vor Störungen seines empfindlichen Gleichgewichts verstärkte die Labilität immer weiter.

Eine der Ursachen hierfür lag sicherlich in der zwanghaften Sorge, dass sich die wissenschaftliche Erfolglosigkeit verehrter Vorfahren in ihm wiederholen könnte. Und war es nicht auch so? Die Tübinger Habilitation seines Vaters - er war Mediziner - wurde in Berlin abgelehnt; und als Erich Hückel sich von Zürich nach Stuttgart umhabilitierte, wurde von ihm eine neue Habilitationsschrift verlangt. (War der spätere Stuttgarter Ehrendoktor vielleicht ein Akt der Wiedergutmachung?) Und sein Urgroßvater, der Biologe Carl Friedrich Gärtner (l772 - 1850), hatte einen großen Teil der Vererbungsgesetze vor Mendel entdeckt, ohne jemals anerkannt worden zu sein. Hat Hückel hieran gedacht, als Linus Pauling den Nobelpreis erhielt?

Jedenfalls stand Hückels aktive Zeit unter dem Druck der Erfolglosigkeit: die Bedeutung seiner Forschung wurde im Ausland gesehen, blieb aber in Deutschland im Krieg und noch lange in der Nachkriegszeit unbekannt. - Mir ist folgende hübsche Szene in Erinnerung geblieben: es war kurz vor der Währungsreform, als ein amerikanischer Offizier sich nach den Marburger Physikern erkundigte; da er - es war Mittagszeit - im Physikalischen Institut niemand Kompetenten antraf, liess er sich von den Hilfsassistenten Kamke und Tietz unsere Ortsgrößen aufzählen; sein stereotypes "I don't know him" ging erst beim Namen Hückel in ein strahlendes "Ah! The famous Hückel!!" über. Als ich Hückel von diesem Besuch berichtete, sagte er nur: "der meint meinen Bruder Walter!", und liess sich davon auch nicht durch meinen Hinweis abbringen, dass der Amerikaner sich als Physiker vorgestellt habe. Erst in seinem Weihnachtsbrief 1956 zeigt Hückel Wirkung: er schreibt von mehreren Vortragseinladungen und: "woher kommen die Leute alle darauf, sich plötzlich so für meine ausgefallenen Dinge zu interessieren??" Beim Otto-Hahn-Preis (1965) schließlich bejaht er seinen Ruhm: "Über eines hab ich mich besonders gefreut: dass meine vor mehr als 30 Jahren angefertigten Arbeiten heute noch ihren wissenschaftlichen Wert haben, wenn auch inzwischen vieles verbessert worden ist!". -

Die späten Anerkennungen haben Hückel glücklich gemacht, ändern konnten sie ihn nicht mehr. Er blieb der kränkelnde und ängstliche, unscheinbare und scheue Mensch, der er geworden war. -

Hückel investierte viel Arbeitskraft in seine Vorlesungen. Faszinierend waren sie nicht: in seiner Nervosität versprach und verrechnete er sich oft; trotzdem waren sie beliebt! Die Schwierigkeiten, die der Professor hatte, machten uns Studenten die eigenen Schwierigkeiten erträglich; damals war das menschliche Engagement eines Dozenten noch ein tragfähiges Medium im Lehr- und Lernprozeß, bevor durch das Geschrei nach Didaktik der eiserne Vorhang herunterfiel! Hückels Rechenfehler wurden durch Erfindung des Hückel-Operators weitgehend kompensiert: "Man ändere das jeweilige Ergebnis nach Bedarf um das Vorzeichen, den Faktor Zwei oder den reziproken Wert!". Seine Versprecher waren vielleicht nicht immer unbeabsichtigt: als er einmal rote Kreide als braun bezeichnete und von den Hörern auf seinen "Irrtum" aufmerksam gemacht wurde, reagierte er eruptiv: "Rot und braun ist doch dasselbe!".

Sein Fußweg zwischen seinem Haus und dem Institut ging von den Höhen der Wilhelm-Roser-Strasse zu denen des Renthofes über die Tiefe des Ketzerbachs. Am Fuß des Leckergäßchens wünschte er sich sehnlichst einen Gravitstionsumschalter und fand für seine klagende Frage "Warum bloß hat die Gravitation nur ein Vorzeichen!?" keinen Trost in meiner Antwort: "Damit es in der Physik wenigstens eine Größe gibt, bei der Sie sich nicht im Vorzeichen irren können!".

In skurrilem Humor leistete er wahre Kabinettstückchen:

- Während der Stuttgarter Zeit wurde er zum Vortrag an der Sorbonne eingeladen; um sein Französisch aufzufrischen, nahm er Nachhilfestunden bei einer jungen Französin. Als diese zur ersten Stunde erschien, führte er sie in sein Arbeitszimmer, in dem er sich zum Schutz gegen seine wilden Söhne einzuschliessen pflegte . . . den Versuch, aus dem Fenster zu springen soll die Dame erst abgebrochen haben, als Frau Hückel belustigt aus dem Nebenfenster guckte;

- Auf die Post hatte Hückel es besonders abgesehen. Stolz zeigte er mir einmal eine korrekt abgestempelte Postkarte, die er an sich selbst geschickt und nur mit Rabattmsrken "frankiert" hatte;

- Ein anderes mal legte er im Postamt anstatt eines Ausweises lediglich ein Photo von sich vor und registrierte befriedigt, dass der Beamte ihm mit den Worten "Ja, das sind Sie" den Einschreibebrief aushändigte;

- Daß er 1945 als einziger Institutsangehöriger die Prüfung zur Benutzung des alten Fahrstuhls nicht bestand und daher am Eingang oft auf einen Schlüsselbesitzer wartete, sei nur am Rande erwähnt.

In vertrautem Kreise öffnete sich Hückels Humor in befreiender Wärme und Herzlichkeit. Höhepunkte ergaben sich, wenn er die Begabung zeigte, die in dem Sinne seine eigentliche war, als er in ihr ohne Hemmung Faszinierendes leistete: die Schauspielerei!

- Berühmt war seine Pantomime "Der Herr in der Badewanne", bei der er nach minutenlanger stummer Aktion plötzlich eine Badezimmerarie schmetterte;

- Es konnte aber auch makaber werden, wenn er bis in die Anspannung der kleinsten Gesichtsmuskel erschreckend genau den wahnsinnigen Hitler imitierte! -

Hückels Anspruchshaltung, die ein Teil seiner Krankheit war, hat manches Kopfschütteln verursacht: sie hatte ihre Wurzel in dem wohlhabenden Elternhaus, und wurde von seiner Lebensangst angeheizt. Wäre sie ihm bewußt gewesen, so wäre er an dem Konflikt mit seiner tiefen Menschlichkeit zerbrochen!

Das Spektrum seiner menschlichen Haltung reichte von ungeschickten Gesten bis zur Selbstgefährdung:

- Zu meiner Staatsexamensklausur schloß er mich vier Stunden lang in seinem Arbeitszimmer ein - das war seine Interpretation der vorgeschriebenen Aufsicht! - und legte mir zur Milderung dieser "Härte" eine Chesterfield auf das Aufgabenblatt - 1947 etwas Besonderes!

- Bei der Meuterei, die den Ersten Weltkrieg beendete, nahm er für einen von Meuterern attackierten Offizier Stellung und rettete ihn vor dem Zugriff der Menge. Dabei war Mut ihm keine primär mögliche Haltung; es war sein grenzenloser Abscheu gegen Ungerechtigkeit, der ihn seine eigene Sicherheit vergessen liess. Mit dieser bedingungslosen Redlichkeit korrelierte auch seine Verständnislosigkeit gegenüber Intrigen: einmal nur fuhr er mir über den Mund, als ich ihn vor einem Kollegen warnen wollte . . .

Meine Damen und Herren! Sie gedenken eines grossen Forschers! Ich konnte Ihnen keinen strahlenden Heros zeichnen - nur einen leidenden, liebenswerten Menschen. - Um den Versuch, Ihnen den Menschen Erich Hückel nahezubringen, zusammenzufassen, zitiere ich ihn selbst; im letzten Krieg verfaßte er - noch nicht 50 Jahre alt - seinen eigenen Nekrolog und schreibt:

"Seine milde Herzensgüte, wechselnd mit aufbrausendem Zorn, sein sarkastischer Humor sowie sein sanfter Jammerton werden allen, die ihn kannten, unvergessen bleiben."

 

 




 

 

Anhang A3 {Alle Hervorhebungen sind die des Autors. I's.n}

Erich Hückels eigener Nachruf.

 

 

Wie mein Nachruf in der physikalischen Zeitschrift einmal lauten müsste :

NACHRUF

Am ............... hat der theoretische Physiker (das soll heissen, er war nur theoretisch ein Physiker) Erich H Ü C K E L das Zeitliche mit einem Seufzer der Erleichterung verflucht. Er, der einst zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, diese aber später weitgehend enttäuschte, war ursprünglich als Sonntagskind geboren, fühlte sich als Findelkind erzogen, ergab sich später dem Suff und - leider! - (nicht) den Weibern, veröffentlichte eine Reihe bekannter, mit ebensoviel Fleiss wie Ungeschick angefertigter Arbeiten, deren Ideen meist nicht von ihm stammten, und die im übrigen zum grössten Teil falsch waren oder inzwischen überholt sind. Später hatte er nicht nur keine Ideen - wenigstens ist nichts über solche bekannt -, sondern veröffentlichte glücklicherweise auch keine Arbeiten mehr.

Er verliess dieses Leben auf seinen eigenen Wunsch, nachdem er an der Universität Marburg zum beamteten ausserordentlichen Gänsehirten ernannt worden war (ohne diese anbeissen zu dürfen), auf dass seine Asche in alle Winde zerstreut werde; denn sein gerechter Sinn wollte es nicht dulden, dass die Würmer, Käfer und Asseln an seiner Leiche markenfrei es besser haben sollten, als er selbst es zu Lebzeiten gehabt hatte. -

Seinen Angehörigen war er eine ausgesprochene Last. Seine milde Herzensgüte, wechselnd mit aufbrausendem Zorn, sein sarkastischer Humor sowie sein sanfter Jammerton werden allen Beteiligten unvergessen bleiben.

Der Leichenschmaus - nach dem Willen des Verstorbenen ("lasst 'ne liegen, lasst 'ne liegen!") aus sauren Gurken mit Schlagsahne und Sekt bestehend - wird nach Friedensausbruch verzehrt werden,

Der Verstorbene

NB. Die meisten Nekrologe müssten, wenn sie der Wahrheit die Ehre geben wollten, ähnlich wie dieser lauten.

 

 




 

 

Anhang A4 {Alle Hervorhebungen sind die des Autors. I's.n}

 

 

Erlebte Geschichte. Mein Studium - meine Lehrer.

Horst Tietz

Vortrag im Mathematischen Kolloqium der Universität Stuttgart, Oktober 1998.

(Auszug aus Ref. (11) , p. 20-21)

............

Gleich nach meinem Staatsexamen hatte mir Hückel, der als Leiter der Abteilung für Theoretische Physik Extraordinarius war und bisher über kein eigenes Personal verfügte, die Hilfsassistentenstelle übertragen, die Walcher für ihn erkämpft hatte. - Walchers Elan brachte nicht nur die Physik in Schwung: gelegentlich fuhr er nach Wiesbaden, um Mittel auszuhandeln, und bei der Rückkehr standen Kollegen auf dem Bahnsteig, hoffend, daß er ihnen auch was "mitgebracht" habe....

Unvergessen bleiben die großartigen Faschingsfeste im Physikalischen Institut. Beim ersten Fest 1949 fand ich Hückel in einer Weinlaube; als er selig fragte: "Tietz, wo sind wir hier?", konnte ich ihn aufklären: "In Ihrem eigenen Dienstzimmer, Herr Professor!"......

Erich Hückel ist heute allen Chemikern bekannt; das war damals nicht der Fall, obgleich die Wurzeln seiner HMO-Theorien schon 20 Jahr zurückreichten; diese gestattet, mit quantentheoretischen Methoden die Bindungsenergien organischer Produkte zu berechnen. Als Chemiker war in Deutschland bekannter sein älterer Bruder Walter. Es war im Sommer 1947, als ich in Hückels Dienstzimmer saß und auf dem Flur mittagsschlafenden Instituts suchende Schritte, Klopfen und Rütteln an verschlossenen Türen vernahm; schließlich wurde auch bei mir geklopft: herein kam ein amerikanischer Offizier, der sich als Physiker vorstellte und nach den Marburger Physikern fragte. Sein stereotypes "I don't know him", mit dem er meine Aufzählung begleitete, ging erst bei dem Namen Hückel ein strahlendes "Ah!, The famous Hückel!" über. Als ich Hückel von diesem Besuch berichtete, winkte er ab: "der meint Walter", und war auch nicht davon abzubringen, als ich betonte, der Amerikaner habe nach Physikern gefragt.

Hückel investierte viel Arbeitskraft in seine Vorlesungen; faszinierend waren sie nicht: in seiner Nervosität verrechnete und versprach er sich oft; trotzdem waren sie beliebt: die Schwierigkeiten, die wir bei ihm bemerkten, machten uns Studenten die eigenen erträglich. Damals war das menschliche Engagement eines Dozenten noch das sicherste Medium im Lehr- und Lernprozeß, bevor die Bildungspolitik die Aufgabe des Verstehens vom Lernenden auf den Lehrenden übertrug.

Phasen wissenschaftlicher Produktivität erlebte Hückel wie im Rausch: tagelang fand er keinen Schlaf und hielt sich mit Strömen von Kaffee wach; danach versank er oft in depressiver Erschöpfung und schweren Migräneanfällen. Seine Frau Annemarie, Tochter des Nobelpreisträgers R. Zsigmondy, war das genaue Gegenteil von ihm: sie platzte förmlich unter dem Druck ihrer Begabungen, und besonders ihr Geigenspiel reizte die Nervosität ihres Mannes oft bis zur Zerreißgrenze; dann saß er mit Ohropax an seinem Schreibtisch, was die Verständigung ziemlich erschwerte, wenn ich neben ihm saß. Diese Stunden gemeinsamen Arbeitens an dem riesigen napoleonischen Schreibtisch mit dem Ausblick auf das Marburger Schloß gehören zu den reichsten Erinnerungen meines Lebens! Aus ihnen erwuchs eine tiefe Vertrautheit, von der Hückel in seiner Autobiographie sagt: "Tietz wurde mein bester Helfer und treuester Freund.!"

Auf der Feier von Hückels 100ten Geburtstag wurde von amerikanischen Forschern betont, daß Linus Paulings Chemie-Nobelpreis eigentlich Hückel gebührt hätte.

Im Rückblick auf meine physikalische Episode darf ich sagen: sie hat mir die "soziale Aufgabe der Mathematiker" bewußt gemacht, nämlich Mathematik Nichtmatematikern schmackhaft zu machen! {Hervorh. Tietz, I.'s n.}.

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